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11. Lösungsmittelrückstände

Warum werden Lösungsmittel überhaupt bei der Herstellung pflanzlicher Nahrungsergänzungsmittel verwendet? Die in einer Pflanze enthaltenen potenziellen Wirkstoffe unterscheiden sich in ihren physikalisch-chemischen Eigenschaften, wie beispielsweise in ihrer Polarität. Dies ist die Fähigkeit eines Stoffes, sich besser in Wasser (polar) oder Fett (unpolar) zu lösen. Daher kann mit der Wahl des Lösungsmittels bestimmt werden, welche Stoffe aus dem Pflanzenmaterial herausgelöst werden. Polare Stoffe sind beispielsweise Zucker und Salze. Diese lassen sich mit einem polaren Lösungsmittel wie Wasser leicht erschließen. Viele sekundäre Pflanzenstoffe, einige Vitamine und ätherische Öle sind aber hydrophob und lösen sich in Fetten, Ölen oder unpolaren Lösungsmitteln wie N-Hexan (Kapitel 11.1.2), Aceton (Kapitel 11.1.3) oder auch Methanol (Kapitel 11.1.1). Die Verwendung von Extraktionsmitteln ist technisch einfach umzusetzen, effizient und kostengünstig, weshalb pflanzliche Wirkstoffe maßgeblich mittels dieses Verfahrens gewonnen werden.

Die Verwendung organischer Lösungsmittel zur Extraktion pflanzlicher Wirkstoffe hat den Nachteil, dass die eingesetzten Mittel nicht komplett aus dem Produkt entfernt werden können. (317) Organische Lösungsmittel sind jedoch für den Menschen toxisch oder zumindest beträchtlich gesundheitsschädigend, weshalb von verschiedenen Komitees länderspezifische Rückstands-Höchstgrenzen festgelegt wurden. Ein gängiges Vorgehen zur Ermittlung dieser Höchstgrenzen sind Tierstudien, wobei ein sogenannter NOEL-Wert (“No Observed Effect Level”) ermittelt wird. Dieser entspricht der Dosis, bei der gerade noch kein (unmittelbar) negativer Effekt zu beobachten ist. Die Risiken einer zwar geringfügigen – dafür aber langfristigen – Exposition beim Menschen können hiermit kaum abgeschätzt werden. Hierzu ist bislang so gut wie nichts bekannt.

In der Richtlinie ICH Guideline Q3C, welche sich auf die Herstellung von Arzneimitteln bezieht, steht sogar ausdrücklich geschrieben, dass sich die Daten bezüglicher vieler Lösungsmittel lediglich auf die akute Aufnahme bzw. auf Kurzzeitstudien beziehen, während Langzeitdaten fehlen. (318) Die akuten toxischen Vergiftungserscheinungen verschiedener Lösungsmittel sind dagegen sehr umfassend bekannt. Dazu gehören Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Schwäche, Sehstörungen und Blutdruckabfall. (61)

Eine allgemein gebräuchliche Klassifizierung von Lösungsmitteln in drei verschiedene Gefahrenstufen sieht die Richtlinie zur Herstellung von Arzneimitteln ICH Guideline Q3C vor: (318)

  • Klasse 1:
    Lösungsmittel dieser Klasse sind zu vermeiden, da sie stark toxisch – zum Teil genotoxisch (das Erbgut verändernd) – oder umweltschädlich sind.
  • Klasse 2:
    Diese Lösungsmittel sollten in ihrer Anwendung begrenzt werden, sind jedoch unterhalb ihrer erlaubten täglichen Höchstdosen (PDE-Werte = “Permitted Daily Exposure”) tolerierbar. Sie sind im Tierversuch nicht genotoxisch, können aber irreversibel neurotoxisch und teratogen (fruchtschädigend) wirken. Methanol und N-Hexan gehören in diese Gruppe.
  • Klasse 3:
    Hier sind alle Lösungsmittel mit einem “relativ geringen" toxischen Potenzial zusammengefasst. Diese können bis zu Mengen von 50 mg pro Tag “ohne nennenswertes gesundheitliches Risiko” aufgenommen werden. Allerdings existieren für die meisten dieser Lösungsmittel keine toxikologischen Langzeitstudien. Sowohl Ethanol als auch Isopropanol, Butanol und Aceton gehören zur Klasse 3.

Wie vielseitig der Einsatz von Lösungsmitteln ist, zeigt die folgende Tabelle aus der Richtlinie für Restlösemittel in Pharmazeutika.

Tabelle: Lösungsmitteleinteilung in Gefahrenklassen gemäß der Richtlinie für Restlösemittel in Pharmazeutika

Klasse 1

Klasse 2

Klasse 3

zu vermeiden”

zu begrenzen”

relativ geringes toxisches Potenzial”

Benzol

Acetonitril

Essigsäure

Tetrachlorkohlenstoff

Chlorbenzol

Aceton

1,2-Dichlorethan

Chloroform

Anisol

1,1-Dichlorethen

Cumol

1-Butanol

1,1,1-Trichlorethan

Cyclohexan

2-Butanol

 

1,2-Dichlorethen

Butylacetat

 

Dichlormethan

tert-Butylmethylether

 

1,2-Dimethoxyethan

Dimethylsulfoxid

 

N,N-Dimethylacetamid

Ethanol

 

N,N-Dimethylformamid

Ethylacetat

 

1,4-Dioxan

Ethylether

 

2-Ethoxyethanol

Ethylformiat

 

Ethyleneglycol

Ameisensäure

 

Formamid

Heptan

 

Hexan

Isobutylacetat

 

Methanol

Isopropylacetat

 

2-Methoxyethanol

Methylacetat

 

Methylbutylketon

3-Methyl-1-butanol

 

Methylcyclohexan

Methylethylketon

 

Methylisobutylketon

2-Methyl-1-propanol

 

N-Methylpyrrolidon

Pentan

 

Nitromethan

1-Pentanol

 

Pyridin

1-Propanol

 

Sulfolan

2-Propanol

 

Tetrahydrofuran

Propylacetat

 

Tetralin

Triethylamin

 

Toluol

 

 

1,1,2-Trichlorethen

 

 

Xylole

 

Quelle: (318)

Als weitere Lösungsmittel, für die keine toxikologischen Daten vorliegen, werden 1,1-Diethoxypropan, 1,1-Dimethoxymethan, 2,2-Dimethoxypropan, Isooctan, Isopropylether, Methylisopropylketon, Methyltetrahydrofuran, Petroleumether, Trichloressigsäure und Trifluoressigsäure genannt.

Während für Arzneimittel in der oben erwähnten Richtlinie und in der Europäischen Pharmakopöe (Ph. Eur.) klare Vorschriften bezüglich Lösungsmittelrückständen existieren und auch für Lebensmittel im Allgemeinen die zugelassenen Höchstmengen eindeutig in der Richtlinie 2009/32/EG des Europäischen Parlaments und Rats festgelegt sind, ist eine solche Eindeutigkeit für Nahrungsergänzungsmittel nicht gegeben. (318,319) In der deutschen Verordnung über Nahrungsergänzungsmittel NemV wird zwar auf mehrere europäische Gesetzestexte, welche Reinheitsvorschriften für Nahrungsergänzungsmittel und Lebensmittelzusatzstoffe enthalten, Bezug genommen; alle nicht explizit erwähnten Stoffe müssen jedoch lediglich “den nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik erreichbaren Reinheitsanforderungen entsprechen.” (320)

Leider werden für die Extraktion von Pflanzenwirkstoffen nach wie vor standardmäßig am Markt toxische Lösungsmittel verwendet. In den wenigen veröffentlichten Untersuchungen zu Lösungsmittelrückständen in Produkten bleiben die gemessenen Werte zwar in nahezu allen Proben unterhalb der jeweiligen nationalen Grenzwerte. (61,321) Doch selbst wenn die in den Produkten unweigerlich zurückbleibenden Lösungsmittelrückstände die gesetzlichen Normen erfüllen, so sind die Risiken einer langfristigen Aufnahme dieser geringen Rückstände unerforscht. Häufig gefundene Substanzen sind Methanol, Aceton, 2-Propanol und Ethylacetat, wie sie auch in einer japanischen Studie zu “Lebensmittelzusatzstoffen in Gesundheitsprodukten” zu finden waren. (321) In einer europäischen Studie mit Nahrungsergänzungsmitteln wurden Rückstände von Methanol und Isopropanol in fast allen Proben und Isobutanol, Tert-Butanol, n-Butanol und n-Propanol in einigen Proben nachgewiesen. (61)

Darüber hinaus sind organische Lösungsmittel eine Quelle weiterer Toxine: Hierunter fallen toxische Substanzen aus der Verwendung ungeeigneter Kunststoffbehälter und -schläuche oder chemische Zusätze und Rückstände aus den Industrieanlagen (siehe Kapitel 11.2).

Bei Untersuchungen von Proben, die wir während der Produktrecherche und auf der Suche nach neuen Zulieferern durchführen, stoßen wir ebenfalls regelmäßig auf Lösungsmittelrückstände. Meistens liegen die gemessenen Werte zwar deutlich unterhalb der Grenzwerte für Lebensmittel, jedoch übersteigen Einzelproben diese Werte immer wieder, wie im Falle eines Vitamin-E-Extraktes aus Sonnenblumenkernöl, den wir im Jahr 2019 testen ließen. Hier wurde ein Methanol-Gehalt von 21 mg/kg ermittelt. Der Grenzwert für Lebensmittel liegt bei 10 mg/kg. Als weitere Lösungsmittel mit Werten über 1 mg/kg waren Aceton (5 mg/kg), Heptan (3,6 mg/kg), Cyclohexan (33 mg/kg) und Diethylether (6 mg/kg) enthalten. Diese Analysen zeigen, dass einige Produkte deutlich stärker betroffen sind als andere. Unserer Erfahrung nach sind Vitamin-E-, -A- und -C-Produkte sowie Q10 häufig besonders belastet. Nachdem solch stark belastete Rohstoffe tatsächlich immer wieder angeboten werden, ist es von besonderer Bedeutung, die Hersteller mit größter Sorgfalt auszuwählen.

Manchmal ist die Anwendung bestimmter Lösungsmittel leider auch unumgänglich. Nährstoffe wie Vitamin B12 und Coenzym Q10 lassen sich nur unzureichend mit Wasser und Ethanol extrahieren, sodass hier zwangsläufig Lösungsmittel wie Aceton oder Methanol verwendet werden müssen. Wir versuchen diese Lösungsmittel wo immer möglich zu vermeiden und verwenden daher – häufig als Sonderanfertigungen – Extraktionen vorzugsweise aus reinem Wasser und essbarem Alkohol (Kapitel 11.3.1) oder CO₂ (Kapitel 11.3.2). Nur wenn nicht vermeidbar und wenn das Produkt eine signifikante Bedeutung für die Gesundheit besitzt, akzeptieren wir die Verwendung anderer Lösungsmittel und investieren in aufwendigere Verfahren, um diese zu minimieren. Spezielle Aufreinigungsschritte helfen, Rückstände bis unter die Nachweisgrenze zu reduzieren – sind aber entsprechend mit einem höheren (Kosten-) Aufwand verbunden.

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